Forum-Wettbewerb: Autodorado
Wir sind schon bei der letzten Kurzgeschichte – und dem ersten Platz! – angekommen, die im Rahmen der Aktion „LBM für Daheimgebliebene“ von der Userin Amaineko eingereicht wurde. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! – Francis
Ich vermisse die alten Zeiten.
Früher hat es niemanden gestört, dass ich mit auf Reisen ging. Sie haben sich sogar wahnsinnig gefreut, besonders die Kleinen, die so aufgeregt vor sich hin brabbelten, dass ich dachte, sie würden nie mehr den Mund halten. Das hätte ich ihnen natürlich nie vorgehalten, und selbst wenn, hätten sie nicht damit aufgehört.
Stattdessen sitze ich nun hier, an meinem angestammten Platz, und beobachte, wie die Familie voller Begeisterung aufbricht und zum x-ten Mal ihre Messepläne durchgeht. Ich höre, wie Markus seiner Frau vom neuesten Fitzek vorschwärmt und dass er unbedingt ein Autogramm ergattern muss. Sina und Benjamin hingegen diskutieren darüber, ob sie sich zuerst die Fantasybücher bei Carlsen oder die Cosplays in der Manga-Halle ansehen. Wer wohl gewinnt?
„Bringst du bitte die Koffer ins Auto?“, ruft Sara ihrem Mann hinterher, als der sich auf den Balkon verdrücken will, um eine zu rauchen, bevor er die nächsten drei Stunden im Auto sitzt. Markus seufzt und steckt die Schachtel wieder weg. Ich beschwere mich nicht – mir ist es lieber so. Aber das bringt mich auf eine Idee.
Ich warte, bis Markus an mir vorbeigelaufen ist, dann stehe ich mit knackenden Knöcheln auf. Ja, das Alter hat vor mir nicht halt gemacht, aber ich kann es immer noch mit allem aufnehmen! So leise wie möglich – und ich hoffe wirklich, dass niemand meine knackenden Knöchel gehört hat – schleiche ich in Richtung Flur, luge um die Ecke. Nichts. Sogar die Haustür steht schon offen. Ich kann das Auto sehen, in das ich schon seit Monaten nur noch für kurze Fahrten zum Supermarkt einsteigen darf. Mehr würde ich nicht verkraften, hat Sara mir vor einem Monat mit so süßlicher Stimme erklärt, dass ich es fast selbst geglaubt habe.
„Hey, Oskar!“
Ich halte inne und verfluche mich. Zu lange gezögert, zu lange dieses Eldorado namens Auto angeglotzt.
„Du willst dich wohl ins Auto schleichen, was?“, sagt Sina und grinst. Bevor ich meine Schuld eingestehen kann, flüstert sie mir ins Ohr: „Wenn es nach mir ginge, ich würde dich sofort reinschmuggeln. Kaputte Beine hin oder her! Ich würde dich quer über die Messe tragen und dir all die Bücher zeigen, die Mama uns damals vorgelesen hat. Erinnerst du dich?“
Natürlich erinnere ich mich. Fünfzehn Jahre sind zwar eine verdammt lange Zeit, doch ich werde nie vergessen, wie Sina, Benjamin und ich im Bett lagen und Sara uns ihre Lieblingsgeschichten aus ihrer eigenen Kindheit vorgelesen hat. Meine schönsten Erinnerungen. Nicht die vom Spielplatz oder vom Schwimmen im See. Alles, was ich je wollte, war, mit meinen liebsten Menschen schönen Geschichten zu lauschen. Doch als die Kinder älter wurden, endeten auch die Vorlesestunden. Gelesen wird jetzt nur noch allein, mit Kopfhörern in den Ohren, auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule. Keiner denkt mehr an den alten Oskar, der niemals selbst gelernt hat, zu lesen.
„Komm, ich bring dich wieder ins Wohnzimmer“, sagt Sina und legt mir ihre warme, mitleidige Hand auf den Rücken. Ich gehorche, denn ich weiß, dass niemand hier mir Böses will, und doch schreit alles in mir danach, rückwärts zu laufen statt zu meinem Platz. Sina lächelt mich ein letztes Mal an, dann brüllt sie: „Benjamin, wo ist meine Büchertasche?“ und schon ist sie verschwunden. Ich nehme es ihr nicht übel, wirklich nicht. Sie ist eine Teenagerin und hat Besseres zu tun, als sich um mich alten Knacker zu kümmern. Trotzdem lasse ich den Kopf hängen bei der Aussicht, die nächsten Tage vom Nachbarsjungen „versorgt“ zu werden.
„Woher soll ich das denn wissen?“, brüllt Benjamin aus dem Obergeschoss zurück. Ja, ich vermisse die Zeiten, in denen die Zwillinge sich einfach lieb hatten.
Markus kommt wieder vom Auto zurück und stapft die Treppe hoch, um den letzten Koffer zu holen. Insgeheim frage ich mich, warum eine vierköpfige Familie für fünf Tage in Leipzig drei Koffer benötigt, doch die Frage verschwindet schnell aus meinem Bewusstsein, als mir klar wird, dass sich die gesamte Familie gerade im Obergeschoss befindet.
Die verkümmerten Muskeln in meinen Beinen schreien auf, als ich mich ein zweites Mal erhebe, aber ich sage ihnen, dass sie nur noch dieses eine Mal auf mich hören müssen, bevor sie ganz lange nutzlos rumliegen dürfen. Jetzt halte ich nicht an der Flurecke inne, sondern steuere schnurstracks auf die Haustür zu und bin froh, dass sie weiterhin offen steht. Das Auto wartet in der Einfahrt, fast bereit zur Abfahrt. Nur noch ein paar Meter! Sogar der Kofferraum ist auf! Ich kann kaum glauben, wie viel Glück ich doch habe.
Ein Koffer liegt noch auf dem gepflasterten Weg. Den benutze ich, unter einigem Geächze, als Rampe, um gaaanz vorsichtig in den Kofferraum zu klettern. Ich war noch nie der Größte, und so beschließe ich, mich hinter den bereits darin liegenden Koffer zu quetschen. Etwas in mir kichert leise. Die werden staunen, wenn sie in Leipzig ankommen und mich im Kofferraum finden! Dann werden sie gar keine andere Wahl haben als mich zur Messe mitzunehmen! Prompt weht der Duft von frisch gedruckten Büchern um meine Nase, und ich vernehme das Rascheln von Papier und das Raunen von Buchliebhabern aus aller Welt, die ihre Lieblingsgeschichten feiern –
Ich jaule auf, als meine Beine abrupt zusammengepresst werden.
„Was war das?“
„Hast du das auch gehört?“
Sterne tanzen vor meinen Augen. Alles, wozu ich noch imstande bin, ist ein leises Wimmern.
„Wo ist Oskar? Er ist nicht mehr in seinem Korb!“
Ich spüre, wie der Koffer, hinter dem ich mich verstecke und der mich nun fast erdrückt, weggezogen wird und erst jetzt realisiere ich, dass die ganze Familie vor dem Kofferraum steht und mich entsetzt anstarrt.
„Oh, Oskar!“ Sara nimmt sich ein Herz und hebt mich sachte aus dem Kofferraum, wobei sie darauf achtet, meine Beine zu schonen. Es tut trotzdem höllisch weh. Sie trägt mich weg, weg vom Autodorado, zurück ins Haus, fort von meinem letzten Traum, dessen Erfüllung ich wohl nie mehr erleben werde.
Die Kurzgeschichte stammt aus der Feder von Katrin.
Katrin Biasi leerte schon früh die Regale ihrer örtlichen Bibliothek und erfand eigene Geschichten, die sie aufschrieb, sobald sie einen Füller halten konnte. Nur selten kam sie dabei ohne phantastische Elemente aus. Neben diversen Kurzgeschichten (gerne auch aus ungewöhnlichen Perspektiven) arbeitet Katrin seit Anfang 2018 an einem High Fantasy-Roman für Erwachsene, der deutliche Spuren ihres zweitliebsten Genres (Thriller) davontragen wird. Dabei unterstützen sie ihr Verlobter und zwei flauschige Stubentiger, mit denen sie im Herzen des Ruhrgebiets lebt.
Ihr findet sie auf Twitter unter: @Amaineko_author
Lektoriert wurde die Kurzgeschichte von mir, Francis.
Falls ihr die anderen drei im Rahmen des Wettbewerbs entstandenen Kurzgeschichten noch nicht gelesen habt, ihr findet Patricks „Das Bücherfresserlein“ hier, Liams „Die Wette mit dem Gevatter“ hier, und Finleys „Von Buchmessen, Landmassen und Kopfgeldjäger-Aliens“ hier. Viel Spaß!