Forum-Wettbewerb: Das Bücherfresserlein

Forum-Wettbewerb: Das Bücherfresserlein

Liebe Autorinnen und Autoren, mit großer Freude präsentiere ich euch heute den zweiten Platz unseres Forum-Wettbewerbs anlässlich der Leipziger Buchmesse für Daheimgebliebene. Bücher spielen in der folgenden Kurzgeschichte eine große Rolle, also seid gespannt und viel Spaß beim Lesen!

„Wo ist denn nur mein Ticket?“, sage ich. Es lag gestern noch auf dem Tisch, da bin ich mir ganz sicher. Doch es ist spurlos verschwunden, als hätte ein Langfinger es genommen und würde jetzt an meiner Stelle zur Buchmesse fahren. So suche ich noch stundenlang weiter, in allen Ecken, an den eigenartigsten Plätzen der Wohnung. Ich lasse den Blick über die Wohnlandschaft wandern. Ich sehe auch in den Salzstreuer, die Gießkanne und selbst in meine Hausschuhe. Nichts.
„Verdammte Sch-“, fluche ich, werde aber durch ein Lachen unterbrochen. Sofort schaudere ich. Es ist unmöglich, dass sich jemand in meiner Bude aufhält. „Hallo? Ist da wer?“, frage ich, um das Zähneklappern zu überspielen.
Erneut schallt ein Lachen durch die Räume und hallt von den bunt gestrichenen Wänden wieder. Es ist unheimlich. „Egal wer … oder was du bist. Komm raus … und … zeig dich!“ Meine Stimme zittert und mir schlottern die Knie, als wären meine Beine plötzlich aus Wackelpudding sämtlicher Geschmacksrichtungen. In meinem Kopf male ich mir die schlimmsten Szenarien und Monster aus. Vielleicht sollte ich weniger Horrorfilme schauen. Ich muss herausfinden, was hier vor sich geht. Währenddessen gackert das Wesen munter weiter. Ob es mein Ticket geklaut und vielleicht sogar gefressen hat? Bei diesem Gedankenspiel bleibt mir der Mund offenstehen. Wenn mir jetzt eine Mücke in den Hals fliegen würde, hätte ich mehr Gehirn im Bauch als sonst wo.
Ich schnappe mir die Elektrofliegenklatsche vom Tisch. Das ist bestimmt eine geeignete Waffe gegen einen Eindringling. Ich verlasse das Wohnzimmer und schleiche den Gang entlang. Sperre meine Lauscher auf und versuche zu ermitteln, woher die Laute kommen. Schleiche an Küche und Bad vorbei und gebe der Tür zum Schlafzimmer einen Tritt. Sie fliegt mit voller Wucht auf. Ich kann gerade noch sehen, wie ein Schatten unter das Bett huscht.
„Jetzt habe ich dich!“, rufe ich und schaue darunter. Das, was ich dort sehe, ist unglaublich. Eine Kleinstadt aus Büchern erbaut. Auf einmal durchfährt ein Kribbeln meinen Körper. Angefangen in der Magengrube breitet es sich bis zu den Finger- und Zehenspitzen aus. Ein Wirbel aus Rauch und Schatten steigt aus dem Parkett auf und streckt seine Hände nach mir aus. Diese ergreifen und umschlingen mich, bevor sie mich in den Boden ziehen. Ich schreie, aber kein Laut verlässt meine Lippen. Einen Augenblick später finde ich mich in den Straßen der Bücherstadt wieder. Es muss ein Traum sein und wenn ich daran glaube, wache ich auf. Die Lider geschlossen und vor mich hinmurmelnd, stehe ich da. „Wach auf. Komm schon, öffne deine Augen.“ Doch nichts passiert. So beschließe ich, den Ort zu erkunden.
Erstaunt schaue ich mich um. Der harte Asphalt entpuppt sich als unzählige aneinandergereihte Buchrücken. Die Häuserwände sind mit Werbeplakaten bestückt, die mich an Lesezeichen erinnern. Von der Fassade eines Gebäudes grinst mir ein bekanntes Gesicht mit einer Blitznarbe entgegen. Heerscharen von Buchtiteln, Autorennamen und Illustrationen unzähliger Genres verschwimmen zu einem Meisterwerk. Es wirkt hypnotisierend auf mich. Eine Wohlfühloase. Warme und kalte Farben zeichnen eine abstrakte Welt, die mich einlullt. Ich kann nicht widerstehen. Wer wohl der Erbauer ist? Warum ich überhaupt hier bin, habe ich vergessen. Der Gedanke an mein Ticket und die Buchmesse in Leipzig sind mir entfallen.
Als ich vorübergehe, beobachten mich aus ihren atemberaubenden Covergemälden Fantasyfiguren und Horrorgestalten. Ein Detektiv betrachtet mich mit seiner Lupe, als wäre ich ein Tathinweis. Plötzlich taucht vor mir ein Wesen auf und ich bleibe stehen. Die Gestalt ist nicht in einem Cover gefangen, sondern echt. Sie ist klein und wurmartig. Die große Brille in ihrem Gesicht macht sie weniger Furcht einflößend.
„Ah, da bist du ja. Ich habe mich schon gefragt, wann du hier eintriffst“, spricht es zu mir.
„Wer? Ich? Wer bist du?“, frage ich etwas zögernd und umklammere die Elektrofliegenklatsche.
„Eins nach dem anderen, kleiner Leser“, belehrt mich das Wesen. „Ich bin ein Bücherfresserlein. Ihr Menschen kennt mich als Bücherwurm. Ich niste mich in Bibliotheken ein und lese die Werke aus, bis sie nur noch leere Hüllen sind. Diese nennt ihr dann Notizbücher und kritzelt mit eurer grausigen Handschrift dort hinein.“
„Und was hat das alles mit mir zu tun? Warum hast du mich hierhergebracht? Wo bin ich hier überhaupt?“
„Ach, das habe ich ganz vergessen. Wo sind denn nur meine Manieren?“, feixt der Bücherwurm mit strahlenden Augen und zieht seine Mundwinkel hoch, „Willkommen auf deiner ganz eigenen Buchmesse. Erbaut aus dem hohen Stapel ungelesener und abgebrochener Bücher. Die Eintrittskarte ist dein Leben.“
„Mein Leben? Aber … aber ich will hier … nicht sein.“
Der Wurm schaut mich streng über den Brillenrand an. Ich sehe flehend zurück.
„Es tut mir leid, kleiner Leser. Du darfst erst gehen, wenn du alle Bücher gelesen hast.“ Mit diesen Worten verkriecht er sich zwischen den vergilbten Seiten eines dicken antiquarischen Werkes. Ich stehe wie angewurzelt da und kann es nicht glauben. „Hey, Bücherfresserlein. Wo soll ich überhaupt anfangen?“
Stille tritt ein, als wäre das Würmchen niemals dagewesen. Nun stehe ich hier umgeben von tausenden Büchern. Eigentlich müsste es für mich das Paradies sein, aber ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Gedanken strömen durch mein Gehirn. Ich muss erst alle diese Bücher lesen. Es sind bestimmt tausende. Noch etwas benommen und überfordert greife ich zu dem ersten Buch und schlage es auf.

Die Kurzgeschichte stammt aus der Feder von Patrick Kaltwasser.

Patrick Kaltwasser, 1986 in Sinsheim geboren, versteht sich selbst als einen modernen Lyriker. Zurzeit arbeitet er parallel an zwei düsteren Gedichtbänden mit den Arbeitstiteln „Schwarzwasser Romantik – Eine dunkle Ära“ und „Lyrisches Nervengift – Der schmutzige Spiegel für die Zivilisation am Tiefpunkt.“
Seitdem er denken kann, macht ihm das Reimen große Freude. Seine Gedichte sind so vielfältig wie er. Sie reichen von lustig und abstrakt, über seine persönliche Kritik an der Gesellschaft und der heutigen Politik bis hin zu menschlichen Abgründen, die manche lieber unter Verschluss gehalten hätten.

„Kaltwasser’sche Lyrik ist wie der süßliche Geruch von Verwesung in einer kleinen zerfallenen Friedhofskapelle im seichten Mondlicht.“ (Patrick Kaltwasser)

Kurzgeschichten sowie längere Texte schreibt er erst seit Ende 2018, da er sich vorher ganz der Lyrik verschrieben hatte. Neben den Gedichtbänden arbeitet er auch an seinem „Artefaktjäger Projekt“ das eine Mischung aus Dark Fantasy und Sci-Fi werden wird.2018 durfte er drei seiner Gedichte in der Benefiz-Anthologie „Entzünde den Funken“ veröffentlichen. Diese wurde bei Twentysix kurz vor Weihnachten zum Bestseller.
Im selben Jahr wurde „Das Motivationsgedicht zur 56. Schreibnacht“ von Tenja Tales und Patrick Kaltwasser im Schreibnacht Magazin veröffentlicht. Dieses Werk ist einfach ein Muss für alle Autoren und Autorinnen, und ihr findet es hier. Dieses Jahr wird er ein Gedicht sowie eine Kurzgeschichte zur Anthologie „Vergessene Pfade“ beisteuern.

Social Media:

Instagram: patrick_kaltwasser
Twitter: @SchwarzwasserR

Lektoriert wurde die Kurzgeschichte von mir, Francis.

Noch nicht genug gelesen? Die Kurzgeschichten des dritten und vierten Platzes findet ihr auch im Magazin, „Die Wette mit dem Gevatter“ von Liam hier und Von Buchmessen, Landmassen und Kopfgeldjäger-Aliens“ von Finley hier.

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