Halloween-Kurzgeschichte 2: Wahrnehmung

Halloween-Kurzgeschichte 2: Wahrnehmung

Diese Geschichte ist im Rahmen des Halloween-Wettbewerbs im Schreibnacht-Forum entstanden. Die Autorin ist Userin J. Brozat-Essen. Drei weitere Kurzgeschichten werden im Magazin veröffentlicht, andere findet ihr im Forum. Nochmals vielen Dank für die zahlreichen Einreichungen und jetzt viel Spaß mit „Wahrnehmung“.

Wahrnehmung ist subjektiv. Je nachdem, in welcher Stimmlage wir uns befinden, nehmen wir Dinge anders wahr. Nicht umsonst sagt man, schwangere Frauen nehmen bevorzugt andere Frauen wahr, die entweder selbst schwanger sind oder deren Kinder bereits um sie herumtollen mit einem Grinsen im Gesicht und riesigen, neugierigen Augen.
Ist schwanger sein eine Stimmlage? Vermutlich nicht.
Mein Daumen streicht das letzte Mal über den Bilderrahmen. Das Metall hatte sich in meiner Hand erwärmt, ich stelle das Foto wieder an seinen Platz auf dem Kaminsims und reiße meinen Blick von der schwangeren Frau, die zum Glück nicht ich bin.

“Jody, kommst du jetzt endlich!”

Wahrnehmung ist subjektiv. Ich war so sehr in Gedanken gewesen, dass ich die schrille, beinahe hysterische Stimme meiner Mutter nicht gehört hatte.

“Ja doch, ich komm ja schon!”, schreie ich in ähnlicher Tonlage zurück, während meine Augenbrauen sich zusammenziehen und ich das bekannte Kribbeln an der Stelle genau zwischen meinen Augen spüre.

Es ist immer dasselbe mit ihr. Jody, räum den Geschirrspüler aus, Jody, bring den Müll raus. Und jedes Mal klingt ihre Stimme, als würde sie gerade dabei zusehen, wie jemand unseren Kater aufschlitzt. Oder noch schlimmer: wie jemand eines ihrer wertvollen Gemälde in tiefrote Farbe taucht und es somit … verschönert. So wie ich, in meiner Kindheit. Wenn ich ein Trauma erlitten hatte, dann ist es definitiv Mutters Stimme geschuldet. Jedes Mal, wenn ich sie so schreien höre, stellen sich mir die Nackenhaare auf.

“Was gibt es, Mum?”, frage ich lässig, als ich den großen Türbogen zur Küche passiere.

„Hier.“ Mit einem lauten Rumsen landet der Umzugskarton auf dem Küchentisch. Sie braucht mir nicht die Aufschrift des eingebeulten Kartons zu zeigen, ich weiß, was da drin ist. “Bitte dekoriere schonmal, ich mache hier alles fertig. Um neun kommen die Gäste.” Sie tut so, als wäre ihr diese Arbeitseinteilung gerade eben erst eingefallen, doch die karierte Schürze verrät mir, dass alles Teil ihres super ausgeklügelten Plans ist.

Ich seufze. Es hilft sowieso nichts. Unter ihrem prüfenden Blick öffne ich den Karton. Der Plastikkürbis springt mir beinahe entgegen. Natürlich hat sie dieses hässliche Ding ganz nach oben gepackt. Und als hätte sie genau darauf gewartet, stemmt sie die Hände in die Hüften und sagt: “Ich warne dich, Jody. Mach dieses Jahr keine Faxen. Raus, aufs Geländer damit. Und leg neue Batterien ein.” Dieser scheußliche Kürbis soll also schon wieder nach draußen vor die Tür, wo alle seine Hässlichkeit bestaunen können?

Wahrnehmung ist subjektiv. Vielleicht findet sie ihn wirklich schön. Die braune Farbe, die sich jedes Jahr ein Stück weiter nach oben zu fressen scheint. Das billige Orange, das immer mehr verblässt. Fast, als würde er langsam verrotten.

“Können wir nicht einfach einen neuen kaufen?”, frage ich und mache damit den einzig vernünftigen Vorschlag.
“Nein, Jody. Du weißt, warum er mir so viel bedeutet. Es hat eine Weile gedauert, bis ich ihn gefunden habe… Du weißt doch, er hat Onkel Phil gehört.”

Da ist sie wieder. Die ‘es-ist-ein-Erbstück’ – Geschichte. Komisch genug, dass sie ihren Bruder mir gegenüber ‘Onkel’ nennt, doch warum versteht sie nicht, dass ‘Onkel’ Phil schon einen Grund gehabt haben musste, ihn einem Antiquitätsladen zu schenken, mit der Bitte diesen Kürbis niemandem zu verkaufen, egal wie viel er dafür bot? Nicht dass ich mir vorstellen kann, dass irgendjemand dafür auch nur einen Cent zahlen würde. Zumindest niemand mit klarem Verstand.

Aber da letztes Jahr leider auch niemand auf unerklärliche Weise umgekommen war, gehen mir selbst die Argumente aus.
Also schnappe ich mir die Kiste und dekoriere das Haus.

Ich stehe an der Veranda, die Wolken sind dicht und zeigen nur manchmal Fetzen des halben Mondes. Der Kürbis grinst mir entgegen, höhnisch, eine stetige Erinnerung an meinen verlorenen Kampf.

Ich erinnere mich an Mutters Worte. „Der Kürbis beschützt uns, Jody. Solange sein Lämpchen brennt, sind wir sicher, wenn der Schleier zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten am dünnsten ist.”

Das LED-Lämpchen flackert mechanisch und obwohl das Licht hauptsächlich aus dem zur Fratze verzogenen Mund strahlt, kommt es mir wie ein Zwinkern vor.

“Aber warum wollte Onkel Phil ihn dann unbedingt loswerden, Mama?”, grummle ich in die Nacht. Langsam trete ich auf den Kürbis zu.

Letztes Jahr hatte ich versucht, ihn im Keller zu verstecken. Eigentlich war das nur ein Streich gewesen. Mutter hatte mich fertiggemacht. “Du riskierst unsere Sicherheit, Jody!”, hatte sie geschrien, mit demselben Tonfall, den ich so nervig finde. Der mir in den Ohren klingelt.

Wahrnehmung ist subjektiv. Und während dieser Kürbis für Mutter irgendeinen esoterischen Schutz darstellt, finde ich ihn einfach nur hässlich.

Ich strecke meine Hand aus. Sie schwebt in der Luft, ich bin unschlüssig, was ich tun werde. Ich weiß, was ich tun will. Meine Finger sind wenige Millimeter von dem verblichenen Orange entfernt.

Und dann geht das Lämpchen aus.

Über die Autorin

J. Brozat-Essen entdeckte ihre Leidenschaft für das Schreiben erstmalig in der Schule. Bereits im Alter von zehn Jahren nahm sie an Schreibwettbewerben teil und fand rasch Gefallen daran, eigene Welten zu erschaffen. Das Haus verlässt sie mittlerweile nur noch in Begleitung ihres Netbooks, welches den Namen ‘Netty’ trägt. Die gelernte Kauffrau lebt in Bayern und arbeitet derzeit an ihrem ersten Thriller.

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