Charaktere, Figuren und deren Konzeption
Wenn aus Litcamp-Sessions Beiträge im Schreibnacht-Magazin gewünscht werden, muss man dieser Forderung entsprechen, oder? Hier also eine Verschriftlichung meiner Gedanken zur Charaktererstellung – viel Spaß!
Bevor wir in die Details gehen und so richtig in die Materie der Charaktererstellung eintauchen, eine kleine Vokabellehre vorweg. Man spricht immer so schnell von „Charakteren“, aber eigentlich heißt es im Deutschen „Figuren“. Man erstellt eine fiktive Figur, keinen „Charakter“. Diese Figur hat einen Charakter, aber sie heißt eigentlich nicht „Charakter“, sondern eben „Figur“. Wenn ihr jetzt so viele Schreibratgeber aus dem englischsprachigen Raum konsumiert habt wie ich, dann wird euch trotzdem das ein oder andere Mal „Charakter“ herausrutschen, denn dort heißen sie genau so – „characters“. Ich habe kein Deutsch studiert, daher sehe ich das nicht so eng. Aber denkt dran, ihr seid gewarnt worden, falls ihr einmal einem_r Lektor_in in freier Wildbahn begegnet!
Wir möchten also eine Figur erstellen. Viele Autor_innen gehen da wie in dem Spiel Sims und seinen zahlreichen Erweiterungen vor: Zunächst kommt das Äußere, danach das Innere. Das ist ja auch so, wenn wir einer uns unbekannten Person begegnen. Wir können nicht in den Kopf schauen, den Charakter identifizieren, Stärken und Schwächen abchecken und dann anfangen, darüber nachzudenken, wie die Person aussieht. So ungern ich oberflächlich sein möchte, viele Autor_innen beginnen bei der Schale, nicht dem Kern – und das ist vollkommen okay! Zu den „Basics“ zählen so Sachen wie Alter, Augenfarbe, Haarfarbe, Frisur, Größe, Körperhaltung, Nase, Lippen, Wangenknochen, Tattoos und Narben. Vermutlich erkennt ihr gleich, in welchem Genre ich meist unterwegs bin… Haben wir den sexy Badboy erst einmal mit der Lederjacke, den zerrissenen Jeans und dem statement-T-Shirt ausgestattet, können wir seinen Charakter entwickeln. War das zu viel des Guten? Keine Sorge, ich fange gerade erst an.
Wir sind beim Badboy, also brauchen wir Charaktereigenschaften, die das „Bad“ rechtfertigen. Eine Lederjacke und ein paar Tattoos reichen mir persönlich nicht aus, ich will da etwas mehr Tiefe. Eine negative Eigenschaft muss her, ein „fault“ (dt. Fehler). Da gibt es sehr viele Eigenschaften, die man wählen könnte – manche Websites erstellen gar Listen, um Autor_innen zu inspirieren, z.B. Writerswrite. Unser Badboy könnte krankhaft eifersüchtig, arrogant, misstrauisch, abweisend, ignorant, naiv, neugierig, etc. sein. Wir haben die freie Auswahl. Na ja, ich habe die freie Auswahl. Mein Badboy ist heute grundsätzlich misstrauisch. Er traut keiner anderen Person, macht sein eigenes Ding, ist Einzelgänger. Aha! Habt ihr auch schon einen Kerl im Kopf, der an der Wand lehnt und niemanden beachtet? Kinn hoch, Lippen verzogen, widerspenstig. Ich schmeiße noch eine Priese Arroganz rein, wenn ich schon dabei bin.
Ich habe ein Bild im Kopf, wie er ist, wenn wir ihn näher kennenlernen. Spielt es eine Rolle, ob seine Haare blond oder schwarz sind, ob er eine Lederjacke trägt oder nicht? Er hat die Hände in den Hosentaschen, einen herausfordernder Blick, eine starre Haltung. Der sagt mir auch so (ohne, dass ich weiß, wie er aussieht), dass mit ihm nicht gut Kirschenessen ist, aber trotzdem – ich möchte ihn kennenlernen! Also lasst uns mal schauen, warum er so ist. Hier kann es hilfreich sein, in die Vergangenheit der Figur zu schauen oder gleich einen inneren Konflikt auszumachen, der unseren Badboy beschäftigt. Ich sehe ihn schon, wie er abschätzig die Augenbraue hebt und mich fragt, was zum Teufel ich da eigentlich gerade vorhabe. So viel dazu. Mauern ohne Ende. Irgendwas war da definitiv.
Innere Konflikte helfen Autor_innen dabei, herauszufinden, wie die Figuren die negative Eigenschaft überwinden oder den Hauptkonflikt am Ende noch verschärfen. Jetzt gerade wissen wir nicht, worauf unser Badboy stoßen wird, aber wir haben Möglichkeiten. Ist er misstrauisch, weil er verraten wurde – von der Familie, den Freunden, einem_r Partner_in? Hat er kein Interesse an einer neuen Beziehung, weil ihm das Herz gebrochen wurde? Musste er einen Traum begraben? Ist jemand vielleicht sogar gestorben? Und wenn ja – hatte er vielleicht sogar Schuld? Mein Badboy verzieht die Lippen, irgendwas war da also. So richtig verraten will er es mir noch nicht, aber wir folgen ihm mal unauffällig durch den Gang, die Lederjacke im Blick.
Irgendetwas hat er vor – und das gilt nicht nur für diese Szene, sondern für seine gesamte Geschichte, seine Biographie. Wir alle haben Ziele, und mein Badboy lebt nicht nur in den Tag, er hat etwas vor. Möchte er Architekt werden? Ein Buch veröffentlichen? Einen Kriminellen zur Strecke bringen? Auch hier sind die Möglichkeiten endlos. Wichtig ist, dass dir als Autor_in klar ist, welche Ziele und Wünsche die Figur hat, und am besten überlegst du dir gleich auch, was zwischen deiner Figur und der Erreichung ihres Ziels steht. Das können kleine Dinge sein – vielleicht fehlt eine Berufsausbildung, die die Figur aber schon angetreten ist -, aber es können auch größere Hindernisse sein oder gar Probleme, die nicht zu überwinden sind. Es macht einen Unterschied, ob der Badboy die Anerkennung seiner Familie wünscht oder ob er sich für den Klimaschutz einsetzt. Mein Badboy fährt herum, funkelt mich an und sagt: „Kannst du deine Nase in die Dinge anderer Leute stecken? Du gehst mir auf den Keks!“ Ich tippe ja auf Familie.
Er schnaubt, die Hände in den Hosentaschen vergraben und geht weiter. So, jetzt ist vermutlich der Punkt erreicht, an dem wir ihm nicht weiter folgen sollten. Er traut mir nicht, er ist gereizt, dass ich herausfinden möchte, warum er so abweisend reagiert, wenn ich auf seine Familie zu sprechen komme, und eigentlich hab ich keinen guten Grund, dem Typ, der so absolut unsympathisch ist und meine Hilfe gar nicht will, weiter zu folgen. Aber irgendwas mag ich dann doch an ihm. Ist es sein Lächeln, wenn er Musik hört? Die Tatsache, dass er immer die Eichhörnchen im Park füttert? Und hat er sich nicht in den Weg von dem Unsympath gestellt und ihn davon abgehalten, weiter aufdringlich zu werden? Irgendetwas Gutes hat der Kerl also doch an sich. Jede Figur besteht nicht nur aus negativen, sondern auch aus positiven Eigenschaften. Mein Badboy hat nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken. Er mag ein hilfsbereiter, selbstloser Kerl sein, der durch einen tiefen Vertrauensbruch Angst davor hat, diese Seite zu zeigen. Er könnte ein netter Kerl sein, dem einmal zu häufig das Herz gebrochen wurde. Vielleicht hat er einen dummen Fehler gemacht, der falschen Person vertraut und jemand wurde verletzt. Oh, da funkelt er mich schon wieder an. Er mag es nicht, wenn ich ihn zu sehr analysiere.
Wichtig für das Zusammenspiel ist, dass die Schwächen, die Stärken, die Konflikte und die Ziele der Figur sich ergänzen und eine interessante Geschichte ermöglichen. Mein Badboy muss vielleicht sein Misstrauen ablegen und mir (und damit dem Protagonisten oder der Protagonistin) vertrauen, um seinem Bruder zu helfen, der tief in der Scheiße steckt. Je wichtiger die Ziele, desto mehr Spannung entsteht. Wie reagiert mein Badboy darauf, als er erfährt, dass sein Bruder nur noch vierzehn Tage Zeit hat, um den Kredithai zu bezahlen? Welche Möglichkeiten hat er? Konflikte, Probleme, aber auch Hilfen können die Geschichte um den Badboy anreichern. Seine Reaktionen sind wichtig, aber auch sein Umfeld. Keine Figur steht in einem luftleeren Raum. Fällt mein Badboy in ein Loch und landet in einer anderen Welt, ist er nicht plötzlich eine Person, deren Vergangenheit keine Rolle mehr spielt. Wir sind das Produkt unser Entscheidungen, unserer Wünsche und unserer Reaktionen, und neue Entscheidungen bilden das ab. Die inneren Konflikte tragen zu den äußeren Konflikten bei und umgekehrt. Vielleicht möchte mein Badboy eine Bank überfallen, um seinem Bruder zu helfen – und stellt dafür eine Truppe zusammen. Er verliebt sich, geht ein Risiko ein, vertraut der falschen Person. Sein Misstrauen wird getestet, aber auch seine Hilfsbereitschaft. Ein Problem führt ins nächste, die Konflikte nehmen zu, bis sie sich in einem großen Knall am Ende lösen.
Wenn ihr euren eigenen Badboy erschafft, beachtet alles. Welche Funktion hat die Figur für die Geschichte? Warum ist die Figur wichtig? Welche inneren Konflikte hat die Figur, welche äußeren Konflikte werden dadurch womöglich verstärkt? Aber bedenkt auch: Nicht jede Figur muss gleich rund sein. Es reichen Ansatzpunkte, die während der Entstehung der Geschichte ausdifferenziert werden. Ich kann eine perfekte Figur auf dem Blatt erstellen, die aber im Zusammenspiel mit den anderen Figuren, mit dem Plot, mit meinem Ziel als Autor_in nicht vereinbar ist. Lasst euren Figuren Raum, sich zu entwickeln, zu wachsen. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Viel Spaß beim Erstellen eures eigenen Badboys! Ich muss mir jetzt überlegen, wo ich den Kerl unterbringe…
Hier noch eine Kurzversion:
- Welche Stärken hat deine Figur?
- Welche Schwächen hat deine Figur?
- Welche Ziele oder Wünsche hat deine Figur?
- Welche inneren Konflikte hat deine Figur, welche Vergangenheit?
- Wie reagiert deine Figur auf Probleme, Konflikte, andere Figuren?
Pssst. Bevor ich es vergesse, lasse ich euch noch eine Empfehlung da: Diese Art der Herangehensweise ist eine Variante, die auf den Empfehlungen von Kathy Jacobson beruht. Ich habe sie nicht 1 zu 1 übernommen, sondern berücksichtige den Artikel wie ein Kochrezept, das noch viele Varianten oder Spielereien erlaubt und noch mehr Hinweise enthält, wenn man weiter liest. Ich hab nur die Zutaten grob übernommen und backe meine eigene Torte. Hier die Literaturangabe:
Kathy Jacobson: Emotion: Fiction’s Connecting Link, in: The Editors of Writer’s Digest (Ed.): the Complete Handbook of Novel Writing. Everything you need to know about creating & selling your work, 2nd Edition, Cincinnati 2010, S. 127 – 135.
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