Serielles Erzählen – auch im Einzelband?

Serielles Erzählen – auch im Einzelband?

Falls du eine Ausrede für einen ausgiebigen Nachmittag oder Abend mit Netflix, Amazon Prime Video, Disney+ & Co brauchst, liefere ich sie dir ganz offiziell mit diesem Artikel. Denn heute soll es im Kern nicht um Buchreihen gehen, sondern Fernsehserien.

Aber hier soll es doch ums Schreiben gehen!

Ja, das hier ist das Schreibnachtmagazin, aber den Horizont zu erweitern, verbessert die Qualität des eigenen Schreibens. Und wir Autor*innen können auch durch das Schauen von Serien dazulernen, denn da gibt es einiges, das wir uns abschauen können. Serien sind nicht nur eine großartige Inspirationsquelle, wir können uns auch viel von ihrer Art zu erzählen abschauen. Aber Vorsicht: sie sind immer noch ein anderes Medium, das andere Regeln hat und sich an andere Erwartungen richtet. Trotzdem will ich euch heute erzählen, was wir aus Serien über das serielle Erzählen lernen können und warum das auch für diejenigen unter euch, die einen Einzelband schreiben, interessant ist.

Quality-TV

Wenn du dich mit Serien auch theoretisch auseinandersetzt, hast du diesen Begriff vielleicht schon mal gehört, für alle anderen will ich kurz erläutern, was Quality-TV eigentlich ist. Ähnlich wie einzelne Genres, ist es ein Label, mit dem Serien versehen werden können. Dafür, welche Serien hierzu zählen, gibt es eine Reihe an Kriterien, wie die Komplexität der Handlung, die Diversität des Figurencasts oder auch Intertextualität. Natürlich gibt es hierbei keine scharfe Trennlinie, sondern eine riesige Grauzone, in der sich viele Serien bewegen, denn ein oder zwei Merkmale, die Quality-TV aufweist, machen eine Serie noch nicht zu Quality-TV.

Vertikales und Horizontales Erzählen

Vertikales Erzählen beschreibt die Dramaturgie innerhalb einer Episode, während die horizontale Erzählung die Dramaturgie einer ganzen Staffel oder ganzen Serie ist. Dabei sind diese niemals klar voneinander zu trennen. Nehmen wir Krimi-Serien wie „The Mentalist“ mal als Beispiel: Patrick Jane unterstützt das CBI als Berater, das heißt es gibt in nahezu jeder Folge einen neuen Kriminalfall. Währenddessen wird über die Serie hinweg Janes Jagd auf Red John, der seine Familie ermordet hat, erzählt. Dabei stehen einzelne Fälle in Verbindung zu dieser übergeordneten Geschichte.

Es geht also nicht nur darum, dass es einen vertikalen und einen horizontalen Erzählstrang gibt, denn die eigentliche Qualität zeigt sich in der Verknüpfung dieser Stränge. Damit die einzelne Folge interessant ist, muss auch die vertikale Erzählung einen dramaturgischen Bogen aufweisen.

Was das für Bücher bedeutet

Der banale Schluss, den man daraus ziehen kann, ist, dass jeder Einzelband einer Reihe seine eigene Handlung mit sinnvollem Spannungsbogen haben muss. Aber das wisst ihr hoffentlich alle schon.

Viel interessanter ist, was das für einen Einzelband bedeutet, denn auch hier kannst du die Qualität deiner Geschichte erhöhen. Vielleicht bist du dir auch manchmal unsicher, an welcher Stelle du zwischen den Kapiteln einen Cut setzen sollst. Page-Turner, also ein Kapitelende, bei dem die Spannung auf die Höhepunkt ist und die Leser*innen nicht anders können, als das nächste Kapitel anzufangen, dürften bekannt sein. Auch dieses Phänomen lässt sich bei Serien beobachten: eine Folge endet meist mit einem heftigen Cliffhanger. Heute fällt das weniger auf, aber erinnert ihr euch noch an die Zeit vor Online-Streaming, als wir eine Woche oder gar mehr auf die nächste Folge warten mussten?

Ok, Cliffhanger am Ende ist klar. Aber wie sieht es mit dem Rest des Kapitels aus? Was für mich persönlich den Unterschied zwischen guten und sehr guten Büchern macht, ist der Aufbau der Kapitel. Nicht nur, dass die üblichen Regeln, wie „so spät wie möglich und so früh wie nötig“ in die Szene einzusteigen, eingehalten werden und jedes Kapitel einen Zweck erfüllt, sondern auch, dass die Kapitel in sich konsistent sind. Dass es nicht nur einen Spannungsbogen über das ganze Buch hinweg gibt, sondern auch ein Kapitel an sich seinen eigenen Spannungsbogen hat. Dadurch werden die einzelnen Kapitel als solche betont, denn ganz ehrlich: inzwischen gibt es leider viele Bücher, bei denen ich mich frage, warum diese überhaupt in Kapitel unterteilt sind (außer, dass mir als Leserin nochmal deutlich gemacht werden soll: Hallo hier, hast du gesehen, voll der raffinierte Cliffhanger!).

Abgesehen von der Spannungskurve kannst du dir von Serien auch die winzigen Nebenstränge abschauen. Zwar ist immer Vorsicht angebracht, wenn es um hohe Komplexität geht, d.h. du solltest nicht zu viele Subplots etablieren, aber diese Nebenstränge sollen auch nicht viel Raum einnehmen und die Geschichte voran treiben. Das klingt kompliziert, oder? Mal ein einfaches Beispiel aus einem Buch, das ihr bestimmt alle gelesen gehabt: Harry Potter und der Stein der Weisen. Das zweite Kapitel handelt von Dudleys Geburtstag und einer Boa Constrictor. Am Anfang des Kapitels erfahren wir, dass Harry nicht zu Mrs. Figg kann, weil diese sich das Bein gebrochen hat – was angesichts von Dudleys Geburtstag ein Problem ist. Denn normalerweise darf Harry die Dursleys nicht an Dudleys Geburtstag begleiten. Dabei befreit er unbeabsichtigt mit Hilfe von Magie eine Schlange aus dem Reptilienhaus. Der Besuch im Zoo wird komplett in dem Kapitel berichtet. Wir haben also einen kurzen Nebenstrang, der aber nach diesem Kapitel in sich abgeschlossen ist. Allerdings spielt es später im Buch nochmal eine Rolle, dass Harry die Schlange befreien und im Laufe der Reihe sogar, dass er mit ihr sprechen konnte. Allgemein hat J.K. Rowling in meinen Augen diese Verschränkung vertikaler und horizontaler Dramaturgie nahezu perfektioniert.

Wie sieht das perfekte Kapitel also aus?

Nun, „perfekt“ ist ein normativer Begriff und Geschmäcker sind bekanntermaßen unterschiedlich. Wenn wir aber die gerade geschilderte Theorie anwenden wollen, bedeutet das: das Spannungslevel muss im Verlauf des Kapitels steigen. Im Umkehrschluss heißt das auch, dass dein Kapitelanfang nicht langweilig sein, aber noch nicht das volle Potential der Spannung ausschöpfen sollte. Viel mehr sollte die Spannungskurve, wie im gesamten Roman auch, langsam steigen. Des Weiteren wird ein Handlungsteil innerhalb eines Kapitels erzählt, der danach zwar abgeschlossen ist, jedoch Details enthält, die die Handlung voran bringt.

Du wolltest eine Ausrede? Hier bekommst du sie: je mehr (Quality-TV) Serien du schaust, desto mehr verinnerlichst du dieses Prinzip.

Und jetzt ihr: welche Serien und Bücher fallen euch ein, bei denen dieses Prinzip besonders gut umgesetzt ist?

Ein Gedanke zu „Serielles Erzählen – auch im Einzelband?

  1. Ich glaube, ich muss wirklich mehr Serien schauen, denn so habe ich da noch nie drüber nachgedacht 😉 Ich sehe schon, dass ich hier noch einige lernen kann 🙂 Über die Struktur von Bänden in Buchreihen habe ich natürlich schon nachgedacht, aber weniger über die Kapitel. Ehrlich gesagt, werden die Kapitel in meinem Buchprojekt im Moment vor allem dadurch bestimmt, dass die Perspektive wechselt.
    Harry Potter ist mir auch direkt eingefallen als Beispiel von Büchern, bei denen das sehr gut gemacht wurde. Ich finde es gibt verschiedene Arten von Buchreihen: diejenigen, die wirklich abgeschlossene Handlungen in jedem Band haben (trotz übergreifender Handlung) wie Harry Potter 1-3 (hier ist es schön abgeschlossen in jedem Band: Ziel (Quirrel/Tom Riddle/Sirius Black aufhalten –> wird erfüllt bzw. nicht erfüllt). Und dann gibt es Reihen, in denen die Teile ineinander übergehen wie Harry Potter 4-7. Ich finde, die eigentliche Geschichte von Harry Potter beginnt erst am Ende von Teil 4: Voldemort ist zurück –> Harry muss ihn aufhalten –> zieht sich über ganze 3 Bücher –> Ziel erreicht. Trotzdem gibt es kleiner Plotlinien (z.B. Herausfinden, wer der Halbblutprinz ist), die innerhalb eines Bandes abgeschlossen werden. So versuche ich es mit meiner Buchreihe auch zu machen. Mal schauen, ob das klappt 😉

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